
Die Frage, ob Lerntherapie für Erwachsene sinnvoll ist, lässt sich mit einem klaren Ja beantworten. Lernen ist ein lebenslanger Prozess, und die Herausforderungen, denen Erwachsene begegnen, unterscheiden sich zwar von denen von Kindern und Jugendlichen, aber sie sind keineswegs weniger bedeutend. Oftmals denken Menschen, dass Lerntherapie nur für Kinder mit schulischen Problemen gedacht ist. Doch auch Erwachsene können von einer professionellen Unterstützung in Form von Lerntherapie erheblich profitieren – sei es in beruflichen, persönlichen oder emotionalen Kontexten.
Häufige Vorurteile und Unsicherheiten
Manche Erwachsene zögern, sich auf Lerntherapie einzulassen, weil sie glauben, dass es “zu spät” sei oder sie sich “blamieren” könnten. Diese Sorgen sind verständlich, aber unbegründet. Lerntherapie ist ein geschützter Raum, in dem keine Bewertung stattfindet und Fehler als natürlicher Teil des Lernprozesses betrachtet werden. Statt Druck aufzubauen, geht es darum, in einem wertschätzenden Umfeld neue Wege zu finden.
Lerntherapie für Erwachsene ist nicht nur sinnvoll, sondern kann auch Türen öffnen, die lange als verschlossen galten. Sie bietet die Möglichkeit, nicht nur Neues zu lernen, sondern auch alte Blockaden zu lösen, das Selbstbewusstsein zu stärken und die Freude am Lernen wiederzuentdecken.
Was Lerntherapie für Erwachsene besonders macht
Lerntherapie für Erwachsene unterscheidet sich in einigen Punkten von der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen:
- Lebensumstände und Erfahrungen: Erwachsene bringen eine Vielzahl von Lebenserfahrungen, aber auch festgefahrene Muster mit. Lerntherapie berücksichtigt diese individuellen Hintergründe und integriert sie in die Arbeit.
- Zielorientierung: Erwachsene kommen oft mit sehr klaren Zielen in die Lerntherapie, z. B. das Bestehen einer Prüfung oder das Erlernen einer spezifischen Fähigkeit. Die Therapie wird entsprechend darauf ausgerichtet.
- Flexibilität: Lerntherapeuten für Erwachsene arbeiten mit Methoden, die auf die Bedürfnisse und den Alltag von Erwachsenen zugeschnitten sind, z. B. durch den Einsatz moderner Technologien, praxisnaher Übungen oder individueller Zeitgestaltung.
Von Scham zu Selbstakzeptanz: Ein Schlüssel zur Veränderung
Scham ist ein Gefühl, das tiefgreifende Auswirkungen auf das Lernen und die persönliche Entwicklung haben kann – im Kindesalter ebenso wie im Erwachsenenalter. Für viele Erwachsene, die sich für Lerntherapie entscheiden, spielt Scham eine zentrale Rolle. Sie kann sich aus früheren negativen Erfahrungen, wie Misserfolgen in der Schule, abwertenden Kommentaren von Lehrern oder Mitschülern oder gesellschaftlichem Druck, ergeben. Diese Emotion ist oft so stark, dass sie nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern auch die Bereitschaft, Neues zu lernen, erheblich beeinträchtigen kann.
Ein zentraler Bestandteil der lerntherapeutischen Arbeit ist es, Schamgefühle zu erkennen, anzusprechen und behutsam zu bearbeiten. Dies geschieht in einem geschützten und wertfreien Rahmen, in dem sich die Klienten sicher fühlen können. Hier sind einige Ansätze, wie Lerntherapeuten Scham in ihre Arbeit einbeziehen:
Scham sichtbar machen
Der erste Schritt ist, Schamgefühle überhaupt zu erkennen und zu benennen. Viele Erwachsene haben Schwierigkeiten, Scham als solche zu identifizieren, da sie oft von anderen Gefühlen wie Wut, Frustration oder Trauer überdeckt wird. Lerntherapeuten helfen den Klienten, diese Emotionen zu reflektieren und in Worte zu fassen. Typische Fragen könnten sein:
- „Gab es Situationen, in denen Sie sich beim Lernen unwohl oder bloßgestellt gefühlt haben?“
- „Welche Gedanken oder Erinnerungen kommen auf, wenn Sie an Ihre Schulzeit denken?“
Einen sicheren Raum schaffen
Um Scham zu bearbeiten, ist es essenziell, dass Klienten sich nicht bewertet oder kritisiert fühlen. Lerntherapeuten schaffen einen wertschätzenden Rahmen, in dem Fehler nicht nur erlaubt, sondern als notwendiger Teil des Lernprozesses gesehen werden. Aussagen wie „Niemand ist perfekt, und das ist auch gut so“ oder „Fehler sind Chancen, um dazuzulernen“ können dabei helfen, den Druck zu reduzieren.
Negative Glaubenssätze hinterfragen
Viele Menschen, die unter Schamgefühlen leiden, tragen tief verwurzelte Glaubenssätze mit sich, wie „Ich bin dumm“ oder „Ich werde das nie lernen“. Lerntherapeuten arbeiten gezielt daran, diese Überzeugungen zu hinterfragen und durch positivere, realistischere Gedanken zu ersetzen. Beispielsweise könnte der Satz „Ich bin schlecht in Mathe“ in „Ich habe Schwierigkeiten mit Mathe, aber ich kann lernen, besser zu werden“ umformuliert werden.
Erfolgs- und Ressourcenorientierung
Ein weiterer wichtiger Ansatz ist es, den Fokus auf die Stärken und Erfolge der Klienten zu legen, anstatt ausschließlich auf ihre Schwächen. Durch das bewusste Wahrnehmen von kleinen Fortschritten – sei es das Lösen einer Aufgabe oder das Überwinden einer Blockade – wird das Selbstvertrauen gestärkt und Schamgefühle können langsam abgebaut werden.
Arbeit mit Mitgefühl und Selbstakzeptanz
Ein zentraler Bestandteil der Therapie ist es, Klienten zu untertsützen, mit sich selbst mitfühlender umzugehen. Anstatt sich selbst für Fehler oder vermeintliche Unzulänglichkeiten zu verurteilen, sollen sie lernen, sich mit denselben Augen zu betrachten, mit denen sie einen guten Freund oder eine Freundin betrachten würden.
“Manchmal beginnt Lernen dort, wo jemand einfach nur zuhört – ohne zu werten.”
Ein persönlicher Erfahrungsbericht über Lerntherapie, Vertrauen und neue Wege
Für viele Erwachsene mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ist der Weg in eine Lerntherapie kein einfacher. Auch für mich war er geprägt von Unsicherheit, Scham und traumatischen Erfahrungen in der Schule. Ich habe dort nicht nur Misserfolge erlebt, sondern auch Mobbing und Diskriminierung – einfach, weil ich anders gelernt habe. Die Erinnerungen an das Nicht-genügen, an das Bloßgestellt werden beim Vorlesen, saßen tief – so tief, dass allein die Vorstellung, einem anderen Menschenlaut etwas vorzulesen, in mir sofort Panik ausgelöst hat. Ich spürte Herzrasen, Schweißausbrüche und am liebsten hätte ich den Raum verlassen. Es war keine bloße Hemmung. Es war eine echte Blockade, begleitet von tiefer Angst.
Umso bedeutungsvoller war mein erster Termin bei Nicole Gerbatsch. Ich erinnere mich genau an diesen Moment. Du hast behutsam gefragt: “Wollen wir es mal versuchen, dass du ein paar Zeilen liest?” Keine Forderung, kein Druck – nur einvorsichtiger Vorschlag. Allein das hat schon einen Unterschied gemacht. Ich habe mich nicht gedrängt gefühlt, sondern eingeladen. Und du warst da – ruhig, aufmerksam, zugewandt. Mit dir konnte ich diesen ersten Schritt wagen. Du hast nicht nur mein Lesen verändert, sondern mein ganzes Selbstbild. Du hast mir gezeigt: Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es geht darum, Vertrauen aufzubauen – zu sich selbst und zum Lernprozess. Lerntherapie bedeutet für mich: individuell, respektvoll, achtsam. Du hast Lerninhalte und Materialien so angepasst, dass sie zu mir gepasst haben. Keine starren Vorgaben wie in der Schule. Ich durfte in meinem Tempo lernen.
Besonders beim Schreiben gab es viel zu entwirren: Regeln, die ich nie richtig greifen konnte, und viele Unsicherheiten bei der Rechtschreibung. Auch hier haben wir gemeinsam Schritt für Schritt Strategien entwickelt – zum Beispiel, wie ich Wörter zerlegen kann, welche visuellen Merkhilfen mir helfen und wie ich typische Stolperfallen erkenne und besser mit ihnen umgehen kann. Das war keine reine Fehlerkorrektur – es war ein Lernen mit Verständnis und Struktur. Und das hat wirklich etwas bewegt.
Diese Art zu arbeiten wünsche ich mir für alle Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche – vor allem für Erwachsene, die oft denken, es sei “zu spät”. Das ist es nicht. Im Gegenteil: Ich würde jeder und jedem empfehlen, sich noch einmal für Lerntherapie zu öffnen. Gerade weil sie so viel individueller und menschlicher ist als vieles, was wir aus dem Schulsystem kennen. Wenn Schule so arbeiten würde wie Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten, hätten wir sicher weniger Menschen mit Ängsten und Blockaden.
Ich persönlich habe erlebt, wie nachhaltig diese Arbeit wirkt. Erst vor kurzem hatte ich wieder die Gelegenheit, auf einer Bühne zu stehen – bei einer Matinee in „DIE Bücherinsel“. Ich habe dort einen Text vorgelesen und danach als Expertin in eigener Sache Fragen aus dem Publikum beantwortet. Und ich hatte keine Angst. Im Gegenteil – ich hatte Spaß daran! Für mich war das ein besonderer Moment, ein innerer Meilenstein. Ich habe mich gefragt: Wo ist denn meine Angst geblieben? Diese Erfahrung war für mich die beste Bestätigung: Lerntherapie wirkt. Und sie wirkt tief. Sie verändert nicht nur,wie man liest oder schreibt – sie verändert, wie man sich selbst sieht.
Danke, Nicole für deine einfühlsame und professionelle Begleitung. Ohne dich hätte ich diesen Weg so nicht gehen können.
Martina hat ihre ganz persönliche Geschichte in einem Buch verarbeitet. “Meine Reise mit Mücke” kann beim Rundfux Verlag kostenlos runtergeladen werden.
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